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Der 15. Juli 1927

(Gedenkveranstaltung vom 15. Juli 2017)

Auch in der österreichischen Literatur ist der Justizpalastbrand vom 15. Juli 1927 verankert: bei Elias Canetti, bei Heimito Doderer und bei Stefan Zweig. Das zynisch-ignorante und entlarvende Zerrbild eines Spießers, der von Helmut Qualtinger dargestellte „Herr Karl“, erinnert sich an den 15. Juli 1927 mit den Worten: „Ich weiß zwar nicht, was los war, aber es war ein schöner Brand ...“

Es war an diesem 15. Juli 1927, nachdem das freisprechende Urteil eines Geschworenengerichts verkündet worden war, als ungeordnete Demonstrationen in der Wiener Innenstadt stattfanden, die in die Erstürmung des Justizpalasts mündeten und bei denen dieses Gebäude in Brand gesteckt wurde. Am Abend dieses Tages waren 89 Todesopfer und rund 1000 Verletzte zu beklagen.

90 Jahre danach, am 15. Juli 2017, lud der Präsident des Oberlandesgerichts Wien, Dr. Gerhard Jelinek, zu einer Gedenkveranstaltung in den Justizpalast.

Nach der Verlesung einer Grußbotschaft des Bundespräsidenten wies Präsident Jelinek auch darauf hin, dass die Justiz auf die sprachliche Verständlichkeit und inhaltliche Nachvollziehbarkeit ihrer Entscheidungen achten, die Gerichtsbarkeit aber auch die erforderliche Ausstattung bekommen müsse, um ihre Funktion im demokratischen Rechtsstaat erfüllen zu können.

Der Präsident des Obersten Gerichtshofs, Dr. Eckart Ratz, nahm in seinen Begrüßungsworten auf das Wesen der richterlichen Unabhängigkeit und auf die Abgrenzung zwischen Rechtsprechung und Gesetzgebung Bezug. Er betonte, dass es sowohl für die Politik als auch für die Gerichtsbarkeit schädlich sei, wenn der Gesetzgeber Entscheidungen, die er zu treffen hätte, entweder durch zu unbestimmte Gesetzesbegriffe oder durch das Unterlassen von Regelungen an die Gerichte delegiere. Die Gerichte sollen das Recht finden, es aber nicht erfinden.

Der Bundesminister für Justiz übermittelte eine Videobotschaft, in der er sich dem seiner Meinung nach ungelösten Problem der Geschworenengerichtsbarkeit widmete. Es gebe den Plan, das bestehende System durch ein System eines erweiterten Schöffensenats zu ersetzen, der aber bisher im Parlament keine Mehrheit gefunden habe.

Die Richterin Mag. Sylvia Waldstätten sorgte sodann für eine zeitgeschichtliche Einführung in die damaligen Geschehnisse, die bereits im Jänner 1927 den Ausgang nahmen, als es in Schattendorf im Burgenland, nahe der ungarischen Grenze, zu einer Schießerei gekommen war, bei der zwei Menschen getötet wurden: ein Kriegsinvalide und ein achtjähriger Bub. Zwei Abteilungen von damals bestehenden bewaffneten Verbänden, nämlich die rechtsgerichtete „Frontkämpfervereinigung“ und der der Sozialdemokratischen Partei zuzurechnende „Republikanische Schutzbund“ waren bei konkurrierenden Aufmärschen aufeinandergetroffen. Aus einem Gasthaus waren Schüsse abgegeben worden, die die zwei Menschen das Leben kosteten.

Waldstätten erinnerte daran, dass damals unverhältnismäßig mehr Privatpersonen (als Mitglieder von bewaffneten Verbänden der Parteien) bewaffnet waren als etwa das österreichische Bundesheer und die Polizei. Das Ende des ersten Weltkriegs lag nicht einmal zehn Jahre zurück. Es bestand die Angst, das jeweils andere „Lager“ werde die ganze Macht an sich reißen.

Sie beleuchtete auch den Strafprozess, bei dem drei junge Männer aus Schattendorf angeklagt waren, durch eine (nach heutiger Diktion) Gemeingefährdung zumindest fahrlässig den Tod der zwei Menschen herbeigeführt zu haben. Unter anderem auch weil für einen Schuldspruch eine Zweidrittelmehrheit erforderlich war, kam es in allen Anklagepunkten zu Freisprüchen.

Der Leitartikel in der „Arbeiterzeitung“ dürfte am nächsten Tag, einem Freitag, zu spontanen Demonstrationen geführt haben, nachdem die Arbeiter der Elektrizitätswerke den Strom für die Straßenbahn abgeschaltet haben, was damals das Signal für einen Generalstreik gewesen sei.

Die Geschehnisse gerieten außer Kontrolle, die Polizei setzte berittene Einheiten ein und der Polizeipräsident ordnete den Gebrauch der Schusswaffen an. Am Ende gab es 89 Tote, darunter vier Polizisten.

Der frühere Präsident des Nationalrats, Dr. Andreas Khol, gab seinem Vortrag das Motto „Ein Freispruch als Anfang vom Ende“.

Er stellte die Frage, ob sich derartige Ereignisse wiederholen könnten und die Gefahr vergleichbarer Eskalation weiterhin bestehe. Nach seiner Einschätzung bestehe nie eine Gewissheit, dass es nicht zu solchen Fehlentwicklungen komme. Wesentlich sei unter anderem, dass ein ausreichendes Vertrauen in die Rechtsprechung bestehe und dass die maßgeblichen politischen Kräfte nicht dem Irrglauben anhingen, politische Probleme mit Gewalt lösen zu können.

Khol ortete einen Handlungsbedarf beim Geschworenenprozess, weil die Entscheidungen der Geschworenen auch heute nicht oder nur rudimentär zu begründen sind. Er mahnte auch eine vernünftige Änderung der Regelungen zum – im Grunde nicht in Frage zu stellenden – Versammlungsrecht ein und erinnerte kurz an die Ereignisse in Hamburg Anfang Juli 2017, als beim „G 20-Gipfel“ auch ein immenses Polizeiaufgebot nicht in der Lage gewesen sei, eine relativ kleine Zahl gewaltbereiter Demonstranten an Gewalttaten zu hindern.

Der frühere Bundespräsident Dr. Heinz Fischer gab seiner Ansprache den Titel „Der 15. Juli – ein Wendepunkt in der Geschichte unseres Landes?“.

Er wies darauf hin, dass aus der Sicht des Jahres 1927 der Vorwurf, die Gerichte übten eine „Klassenjustiz“, deswegen nicht ganz unverständlich sei, weil es in den Jahren davor immer wieder zu gewalttätigen Auseinandersetzungen politischer Natur gekommen sei, bei der Menschen getötet und verletzt wurden, und es in allen Fällen relativ milde Urteile oder Freisprüche gegeben habe. Er erklärte, man dürfe das Jahr 1927 nicht als die „Geburtsstunde“ gewalttätiger politischer Auseinandersetzungen in der Ersten Republik ansehen, vielmehr sei dieses Jahr eingebettet in eine traurige verhängnisvolle Entwicklung, die schon früher begonnen habe.

Es sei grundsätzlich besorgniserregend, wenn das Gefühl überhand nehme, zwischen „Recht“ und „Gerechtigkeit“ bestehe ein Unterschied. Dass nicht jede und jeder – entsprechend der Interessenlage – immer mit allen gerichtlichen Entscheidungen einverstanden sei, liege in der Natur der Sache, doch sei es ernst zu nehmen, wenn die beiden Aspekte „Recht“ und „Gerechtigkeit“ zu stark und in den Augen zu vieler Menschen auseinanderklaffen.

Seiner Meinung nach könnten die Menschen aus der Geschichte wohl lernen, doch verschwänden Ereignisse, die zu weit in der Vergangenheit liegen, hinter diesem „Lernhorizont“. Doch nach Ereignissen, die zu Lebzeiten der Eltern und Großeltern angesiedelt seien, sei ein – wenn auch manchmal nur langsamer – Lernprozess möglich.

Zum Ende der Veranstaltung legten der Präsident des Obersten Gerichtshofs und der Präsident des Oberlandesgerichts Wien vor der Gedenktafel in der Aula des Justizpalasts für die Opfer des 15. Juli 1927 einen Kranz nieder.

Für die würdige musikalische Umrahmung sorgte das Duo Corinna und Michael Wasserfaller.

Reinhard Hinger

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